Im Rahmen der Amal-Tour im Rhein-Main-Gebiet besuchte unser Redaktionsteam die Stadt Bingen. Hier informierten wir uns über die Situation von Geflüchteten aus verschiedenen Ländern. Sie erzählten uns, wie sie in diese Region gelangten und wie sich ihr Leben gestaltet. Wir wollten wissen:Ist in Dörfern der Einstieg in die deutsche Gesellschaft leichter?
Amal on Tour
Es wurde in letzter Zeit häufiger von Seiten der Behörden und aus der Politik gefordert, die Geflüchteten besser auf Deutschland zu verteilen: Viele große Städte sind am Limit und es wird für Neuankommende immer schwierigen, Wohnungen, Kitas und Schulplätze zu finden. In kleineren Gemeinden und außerhalb der Ballungsgebiete sei es viel einfacher, die Geflüchteten zu integrieren. Im Rahmen unserer Amal on Tour in verschiedene ländliche Regionen Deutschlands gehen wir der Fragen nach: Stimmt das? und: Wie ist der Alltag für Geflüchtete im ländlichen Raum.
Julia und Victoria
In diesem Artikel geht es um zwei ukrainische Frauen: Julia und Victoria. Die beiden Frauen teilen das Schicksal, dass sie von einem Tag auf den anderen ihr Land und alles, was sie bisher kannten, verlassen mussten. Sie kamen mit ihren kleinen Kindern in ein Land, das sie ihnen fremd war, dessen Mentalität und Regeln sie nicht beherrschten und dessen Sprache sie nicht sprachen. Hier mussten sie ganz von vorne anfangen. Beide verbindet auch die Angst, die sie zu Beginn ihrer Reise ins Ungewissen spürten: Wie sollen sie es schaffen, ihren prallgefüllten, aktiven Alltag in der Ukraine gegen ein Leben in einer deutschen Kleinstadt einzutauschen? Doch sie hatten Glück, alle beide: Sie wurden von Anfang an freundlich aufgenommen und fürsorgliche Menschen aus der ganzen Gemeinde halfen ihnen.
Julias Weg
Julia hatte nie vor, ihr Land zu verlassen. Sie kommt aus der Stadt Zmiyiv (in der Nähe von Charkiw). Der Krieg machte die Situation dort zu gefährlich und gemeinsam mit zwei anderen Familien, beschlossen sie und ihr Mann, dass die Frauen und Kinder in Sicherheit gebracht werden sollten. Die Wahl fiel auf Deutschland. Allerdings hatte keiner von ihnen dort Verwandte oder Bekannte. Deshalb wagten sie es, in einer der Facebook-Gruppen eine Bitte um Hilfe zu schreiben (*mit Beginn des großen Krieges in der Ukraine, sind fast sofort Hilfsgruppen in sozialen Netzwerken entstanden). Sie gingen davon aus, dass sie „höchstens zwei bis drei Monate wegbleiben würden, bis der Beschuss und der Krieg vorbei sind“. Deswegen schien es ihnen egal, in welche Stadt in Deutschland sie gehen würden. Die einzige Bitte war, wenn möglich, eine gemeinsame Unterkunft für alle Frauen und Kinder zu finden. Die Männer sollten ja in der Ukraine blieben und die Frauen mit kleinen Kindern waren darauf angewiesen, sich gegenseitig zu helfen.
Sie hatten Glück
Ein Ukrainer, der schon lange in Deutschland lebt – reagierte fast sofort. Wie durch ein Wunder fand er in der Nähe von Bingen ein Haus. Es gehörte der Gemeinde von Waldalgesheim, einer Kommune mit mehreren Ortsteilen. Insgesamt wohnen gut 4000 Menschen hier. Das Haus stand zu diesem Zeitpunkt leer und konnte genau neun Menschen beherbergen. Perfekt, denn die Gruppe umfasste neun Personen. So packten sie das Nötigste in zwei Autos und machten sich auf den Weg; auf eigene Gefahr, unter schrecklichem Beschuss und in völliger Unsicherheit. Ihr Ziel: Waldalgesheim. Ein Ort, von dem sie nie zuvor gehört hatten. Julia und ihre beiden Söhne (5 und 9) wohnten einen Monat in der gemeinsamen Unterkunft, dann wurden sie von einer deutschen Familie in deren Haus aufgenommen. Dort lebten sie ein Jahr und inzwischen haben sie eine separate Wohnung gefunden.
Victorias Weg
Für Victoria war die Situation ganz anders. Sie kannte die Region bereits, da ihr Vater und seine Frau seit langem in Genheim leben, einem Dorf mit gut 500 Einwohnern, das zur Gemeinde Waldalgesheim gehört. Victoria hat es allerdings nie gelockt. Sie war mit ihrem Leben in Winnyzja zufrieden und dachte nie an einen Umzug nach Deutschland. Und auch im Frühjahr 2022 reiste sie nur ihren beiden Söhnen zuliebe. Auch sie wollte „nur für ein paar Wochen“ die Ukraine verlassen. Es bestand keine Absicht, lange zu bleiben: Winnyzja ist eine aktive, moderne Stadt und Genheim ein Dorf, in dem die öffentlichen Verkehrsmittel nur selten verkehren und die Schule im Nachbardorf liegt. Der Krieg in der Ukraine ging weiter und so beschloss Victoria, nachdem sie fünf Monate lang bei der Familie ihres Vaters gelebt hatte, nach einer separaten Unterkunft und einer geeigneten Schule für ihre Söhne zu suchen.
Alles auf Anfang
Es war eine schwierige Zeit für alle Geflüchteten: In den ersten Monaten des großen Krieges wusste niemand, wie man sich verhält, wohin man geht, was man denkt, was man sagt und überhaupt, wie man lebt. Wenn Erwachsene und Kinder in der Heimat massenhaft getötet werden, in einer solchen Situation denkt man nicht an die Zukunft. Man lebt nur von einem Tag auf den nächsten. Das Wichtigste ist, dass die Kinder in Sicherheit sind. Um nicht untätig herumzusitzen, begannen Julia und Victoria, Deutschkurse zu besuchen. Da lernten sie sich kennen. Jeden Tag vier Stunden mit neuer Grammatik und neuen Wörtern. Die Kinder lernten die Sprache recht schnell, vor allem die Jüngeren: Nach sechs Monaten im Kindergarten ergaben Tests, dass ihre Deutschkenntnisse denen einheimischer Kindern entsprechen.
Die Vorteile des Lebens im Dorf
Julia ist sehr stolz auf ihre Söhne und sagt, dass sie in solchen Momenten versteht, warum sie hier ist und was der Sinn ihres Lebens ist: Ihre Kinder und dass sie lächeln. Zu sehen, dass sie Chancen haben und ständig mit etwas beschäftigt sind. Zudem ist Waldalgesheim sehr sauber, schön und kindersicher.
„Meine Söhne spielen sehr gerne Fußball. In der Heimat hatten wir fast täglich die Möglichkeit, Trainingseinheiten in einer Fußballschule zu besuchen. Also gingen wir auch hier zum örtlichen Sportverein und fragten, ob man den Jungen, die noch über ein geringes Sprachniveau verfügten, die Möglichkeit geben könnte, Fußball zu spielen. Das ging klar und die Kinder konnten tun, was sie gerne machen und sie lernten sehr schnell die Sprache und wurden integriert. Außerdem begann mein ältester Sohn mit dem Tischtennisspielen, trotz seiner geringen Deutschkenntnisse. Er wurde sowohl von den Trainern als auch von den anderen Kindern gut aufgenommen. Im Allgemeinen bin ich angenehm überrascht, wie uns die Einheimischen helfen“, sagt Julia.
Was für die Kinder wichtig ist
Victoria stimmt zu. Sie sagt, dass es den Kindern egal sei, dass sie in einer so kleinen Gemeinde leben. Für sie ist es wichtig, ihre Mutter und Freunde in der Nähe zu haben und zu tun, was ihnen Spaß macht. Genheim gibt ihnen diese Gelegenheit. Und auch Distanzen sind kein Problem mehr: Im Ort bewegen sie sich mit Fahrrad oder Roller. Ein „Elterntaxi“ bringt die Kinder zur Schule: Ein Elternteil fährt abwechselnd Kinder aus mehreren Familien. Das Wichtigste, was Kindern an einer deutschen Schule gefällt, ist das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern: freundlich, ruhig, auf Augenhöhe.
Die Nachteile der Großstadt
Beide Frauen müssen eingestehen, dass sie in einer Großstadt höchstwahrscheinlich nicht so viel Glück hätten: Schließlich gibt es dort mehr Menschen und damit auch mehr Bedürftige, die in der Schule Förderung brauchen oder eine günstige Wohnung mieten wollen. Darüber hinaus ist das Chaos in einer internationalen Großstadt größer: Ständige Zugverspätungen, „Michael Schumacher“ auf gemieteten E-Rollern, lange Schlangen vor Ärzten, Demonstrationen und Kundgebungen, Obdachlosigkeit und der Verkauf von Drogen – all das ist so, um ehrlich zu sein, ein Bestandteil des Lebens in Metropolen. Wenn man die Sprache und die Stadt nicht kennt, kann das zu einem riesigen Problem werden. Und in kleinen Städten kennt jeder jeden und versucht zu helfen.
Der Mensch braucht die Menschen
Julia hält den Kontakt zu der deutschen Familie, bei der sie anfangs lebte. Sie laden sich gegenseitig zum Abendessen ein, üben Deutsch, lernen gegenseitig die Kultur ihrer Länder kennen.
In eines Tages fand in Waldalgesheim ein „Tag der offenen Tür der Kunst“ statt. Es wurde eine kleine Broschüre mit einer Karte gedruckt, auf der die Häuser eingezeichnet waren, in denen Kunst ausgestellt wurde. Die Menschen zeigten die Kunst, die sie hatten: Gemälde, Skulpturen, Bücher usw. Die deutsche Frau, mit der Julia zusammenlebte, regte an, im nächsten Jahr eine Ausstellung in ihrem Garten zusammenzustellen, die ganz den Werken aus der Ukraine gewidmet sein solle. Es gäbe so viele interessante Werke.
Die Deutschen und ihre Art zu planen
„Anfangs war es sehr schwierig, sich an die deutsche Art zu planen zu gewöhnen. Überall gibt es Fristen. Allerdings habe ich versucht, es von der anderen Seite zu betrachten und inzwischen gefällt mir diese Lebenseinstellung sogar. Die Tatsache, dass Deutsche nicht nur planen, sondern sich auch an diesen Plan zu halten, gefällt mir. Sie zögern nicht und sind nicht faul“, fasst Victoria zusammen und gibt ein Beispiel: „Die Frau meines Vaters ist Deutsche. In ihrer Familie ist es üblich, gemeinsam zu frühstücken und zu Abend zu essen. Alle setzen sich gleichzeitig an den Tisch und stehen gemeinsam auf. Für mich war das ungewöhnlich, aber ich verstehe, dass solche Dinge Teil der Familientradition sind. Es geht um die gemeinsam verbrachte Zeit. Es macht viel Sinn.“
Etwas für die Seele
Das Dorf, in dem Victoria wohnt, ist sehr ruhig: Es gibt kaum jungen Leute und in der ganzen Region nur wenige Ukrainer:innen. Dafür kennen sie sich alle. Sie treffen sich, verwöhnen sich gegenseitig mit ukrainischen Gerichten und bewahren ihren eigenen Kulturcode.
Julia hat begonnen, im Chor zu singen. Das hatte sie in der Ukraine noch nie gemacht und es ist ein ganz neues Hobby. Sie singt auf Deutsch und Englisch. Neben ihr gibt es noch zwei weitere Ukrainerinnen in dieser Gruppe. Singen hilft ihnen, sich abzulenken, Stress abzubauen und für eine Weile ihr Leben langsamer werden zu lassen.
Vermissen sie nicht das Leben in der Großstadt?
Und was ist mit dem Rhythmus der Großstadt: Vermissen die Frauen ihn nicht? Julia und Victoria sagen beide, dass sie plötzlich verstanden haben, dass sie in der derzeitigen Situation weder Zeit noch Lust haben, in einer Metropole zu leben. Sie haben andere Prioritäten. Es ist notwendig, den Kindern ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, ihrem Heimatland zu helfen und zu arbeiten. Und wer plötzlich Lust auf aktiveres Tempo hat, kann jederzeit für einen Tag Mainz, Frankfurt oder Koblenz besuchen. Eine halbe bis eine Stunde mit der Bahn und schon ist man im „großen Rhythmus“.
Arbeitsmarkt und Perspektiven
Und wie sind die Chancen, im ländlichen Raum einen Job zu finden? Julia sagt, dass sie gute Chancen sieht, da es hier viele kleine Betriebe gebe: Reparaturdienste, Rechtsdienstleistungen, Baugewerbe, Arztpraxen, Übersetzungen und Friseure. Allerdings sei es sicherlich nichts für Leute mit Karriereambitionen. In der Nähe gebe es jedoch die Universität in Mainz und eine große Infrastruktur für Studierende und junge Familien. „Ja, man muss dann jeden Tag zur Arbeit in eine andere Stadt gehen, aber das ist nicht das größte Problem. Die Hauptsache ist, Lust und Motivation zu haben“, sagt sie. Zunächst gelte es jedoch die Abschlüsse aus der Ukraine anerkennen zu lassen und die deutsche Sprache zu erlernen. Die sei aus ihrer Sicht die größte Hürde. „Insbesondere, wenn man keine Zwanzig mehr ist“, sagt sie: „Es ist jedoch möglich. Alles ist möglich, wenn man jeden Tag mindestens einen Schritt nach vorne macht“.
Es gibt Momente, wo alles nervt
Manchmal geraten sie an ihre Grenzen, sagen beide Frauen. Es gibt Momente, in denen alles nervt: Die örtliche Gesetze, die deutsche Musik, das Essen, die Sprache und ihr Status als „Flüchtlinge“. Man möchte alles einpacken und in die Ukraine zurückkehren. Zugleich ist klar, dass es falsch und egoistisch wäre, die Kinder aus der Schule zu nehmen. Zudem ist die Situation in Charkiw immer noch instabil. Deshalb entscheiden sich beide Frauen immer wieder dafür, heute zu leben, kleine Schritte zu unternehmen und – was am wichtigsten ist – dankbar für alles zu sein, was sie gerade haben. Schließlich weiß niemand, wie es morgen wird.
„Es spielt keine Rolle, wie lange wir hier leben, es ist immer auf jeden Fall eine kolossal wichtige Erfahrung für den Rest unseres Lebens“, sagt Julia. „Wir haben so etwas nie geplant oder davon geträumt. Das Leben ist jedoch der wertvollste Schatz. Und es ist nicht so wichtig, wo Sie wohnen – in einer großen oder auf dem Land. Die Hauptsache ist, dass du lebst“.
Amal on Tour im Rhein-Main-Gebiet wird gefördert von der EKHN-Stiftung.