Parwiz Rahimi
Juli 28, 2023

Integration ist eine bittere und zugleich süße Erfahrung

Was ist Integration und wie lange braucht es, bis eine Person in Deutschland integriert ist? Wovon hängt es ab, ob es schnell oder langsam geht? Zu dieser Frage haben wir uns mit zwei Frauen unterhalten, die sich beide gut auskennen und zugleich sehr unterschiedliche Perspektiven haben, weil ihre persönliche Situation sehr unterschiedlich ist: Beide sind sie nach der Eroberung Kabuls durch die Taliban nach Deutschland gekommen und beide kamen mit Mann und Kindern und beide sind durch Zufall in der kleinen Stadt Bingen am Rhein gelandet. Soviel zu ihren Gemeinsamkeiten.

Eine von beiden hat schon wenige Tage nach ihrer Ankunft einen Job und inzwischen auch eine Wohnung gefunden. Für sie ist derzeit die Umstellung auf die andere Kultur ein großes Thema. Wie gelingt es, sich selbst und ihre Kinder an die Lebensgewohnheiten in Deutschland zu gewöhnen?

Für die andere ist die Sprache die größte Herausforderung. Nach ihrer Ankunft hatte sie und ihre Familien mit vielen Problemen zu kämpfen, die mit fehlenden Sprachkenntnissen zusammenhingen. Nun hat sie begonnen, Deutsch zu lernen, doch auch da hat sie mit besonderen Schwierigkeiten zu kämpfen, denn sie muss zunächst Lesen und Schreiben lernen. Sie hat zuvor noch nie eine Schule besucht. Für die 40jährige Mutter eine große Herausforderung.

Die andere Frage, der wir bei dieser Recherche nachgehen, lautet: Ist Integration in kleinen Städten leichter als in großen?

Sona Sahar

 

Die schnell integrierte Lehrerin

Anlaufstelle für alle Fragen zum Thema Integration ist in Bingen die Volkshochschule. Hier werden die meisten Sprach- und Integrationskurse angeboten. Hierher kommen quasi alle Geflüchteten und Zuwanderer, die neu in die Stadt kommen. Hier treffen wir auf Asmaa Azizi und vom ersten Moment an habe ich das Gefühl, sie schon lange zu kennen. Ihre freundliche, jedoch angenehm zurückhaltende Art, ihr freundliches Lächeln. Bei ihr fühlt man sich sofort willkommen. Sie selbst kam vor gut einem Jahr nach Bingen und auch einer ihrer ersten Wege führte zur Volkshochschule. Sie fand das Gebäude, weil es ganz in der Nähe der Schule gelegen ist, in der ihre Kinder einen Platz bekamen. Sie wandte sich an die Lehrer:innen der Volkshochschule und kam genau zum richtigen Moment. Wenig später hatte sie einen Vertrag als Deutschlehrerin in der Tasche. Asmaa Azizi hatte zuvor als Deutschdozentin an der Universität von Kabul gearbeitet und ihre Erfahrung als Lehrerin für Deutsch war in Bingen angesichts der vielen ankommenden Geflüchteten aus Afghanistan und der Ukraine gesucht. Asmaa Azizi gehört zu den wenigen Geflüchteten aus Afghanistan, die gar nicht erst den Unterhalt vom Jobcenter beantragen mussten, sondern gleich auf eigenen Füßen stand. Heute bekommt sie ein bisschen Zuschuss, da sie sonst nicht alle Kosten für ihren Mann und ihre Kinder bezahlen könnte. Kurz darauf fand sie auch eine Wohnung und damit hat sie eigentlich alles, was offiziell zur Integration dazugehört: Sie kann Deutsch, hat einen Job und eine Wohnung.

 

Was will man mehr?

„Es ist nicht so leicht, sich an eine völlig neue Gesellschaft zu gewöhnen“, beschreibt sie: „Wir haben bisher in einer konservativen Gesellschaft gelebt und sind dann von einem Tag auf den anderen in eine sehr freie Gesellschaft geworfen worden. Das braucht Zeit, um sich daran zu gewöhnen“, sagt sie. Dabei sei sie eine studierte Frau und auch ihre Familie gehöre zur intellektuellen Schicht der Großstadt Kabul. Sie habe schon in der Vergangenheit einmal Deutschland besucht. „Die Umstellung ist trotzdem schwer!“. Ihre erwachsenen Kinder würden sich auch schwertun, allerdings fiele es ihnen noch leichter als ihr. Da sei sie froh, dass sie in der kleinen freundlichen Stadt Bingen gelandet sei. „Hier ist das Leben gemütlich und gelassen. Es gibt nicht so viel Stress wie in größeren Städten. Das macht das Ankommen leichter“.

 

Am Anfang gab es viele Missverständnisse

Dem stimmt auch meine andere Gesprächspartnerin zu. Sie stellt sich als Zakia vor: 40 Jahre, Hausfrau, aus der Provinz Samangan in Afghanistan. Auch sie ist erst im vergangenen Jahr aus Afghanistan gekommen. Ihr Mann arbeitete für eine deutsche Organisation und so wurden sie mit ihren Kindern von der Bundesregierung evakuiert. Zakia kommt mehrmals die Woche in die Volkshochschule, macht hier einen Sprachkurs und bekommt zusätzliche Hilfe, weil sie neben der Sprache auch Lesen und Schreiben lernt. Sie sei nie zur Schule gegangen, erzählt sie und habe ihr bisheriges Leben mit Arbeiten in der Familie und im Haushalt verbracht. Die Flucht nach Deutschland hat für sie alles verändert. Sie wurde aus der Bahn geworfen und zugleich haben sich neue Horizonte aufgetan. Sie ist schüchtern und zurückhaltend und über meine Frage, ob ich sie fotografieren darf, beantwortet sie mit einem Zögern. Schließlich hält sie mir eine Seite ihres Gesichts hin, dass ich sie von der Seite aufnehmen kann.

Jetzt haben sie eine Wohnung und es geht bergauf

Sie beschreibt die Integration als einen Prozess, den sie bei ihrem Mann, den Kindern und sich selbst beobachtet. Sie lernen Deutsch, haben eine große Wohnung gefunden und beginnen, sich in Bingen zu Hause zu fühlen. Sie lebt ein wenig außerhalb von Bingen in einer kleinen Ortschaft. Hier gibt es vielleicht nicht alle Vorzüge, die eine große Stadt zu bieten hat, aber dafür ist es einfach, sich zurechtzufinden. „Es ist eine bittere und zugleich süße Erfahrung“, fasst sie ihr neues Leben in Deutschland zusammen.