Die Polizei hat 380 Straftaten im Zusammenhang mit dem Konflikt im nahen Osten in einem Monat registriert. Titel der Nachricht von amalfrankfurt.de vom 8. November 2023
“Ihr seid so einseitig!”, diesen Vorwurf haben wir in den vergangenen fünfeinhalb Wochen oft gehört. Interessant ist, dass dieser Vorwurf von ganz verschiedenen Seiten kommt. Vor allem von unseren Leser:innen der arabischen Seite wird uns immer wieder vorgeworfen, dass wir zu sehr die “deutsche” Seite beziehen. Von deutschen Kolleg:innen hören wir die Kritik, dass wir zu sehr die arabische Position vertreten.
Gerade kam wieder eine Nachricht von einem sehr guten alten Freund von Amal, der schrieb: “Ich mache mir etwas Sorgen über die Berichterstattung von Amal. Wir wollten doch Brücken bauen damals. Beidseitig Verständnis wecken. So wie gerade berichtet wird geht das in eine sehr einseitige Richtung”, schreibt er. Wir nehmen dies zum Anlass, in diesem Newsletter einmal genauer auf unsere Berichterstattung und Haltung zum Thema zu schauen.
“Ihr seid so einseitig”
Wir wollen dabei ein wenig ausholen, denn es ist ein komplexes Thema, das es gilt in all seinen Schattierungen zu beleuchten. Zudem hat sich in den letzten Wochen viel verändert. Unsere wichtigste Beobachtung: Die Stimmung versachlicht sich zunehmend und es wird möglich, differenzierter zu diskutieren und genauer zuzuhören. So schreiben wir auch erst jetzt einen Newsletter zu dem Thema.
Von unseren arabischen Leser:innen kommt die Kritik, dass wir nicht über das berichten, was wirklich wichtig ist. Ein Teil dieses Vorwurfs lässt sich schnell entkräften: Gaza gehört nicht zu unserem Berichtsgebiet! Wir berichten nur über deutsche Lokalthemen. Für einen großen Teil unserer arabischen Leserschaft gab es in den ersten Wochen nach dem Massaker der Hamas an israelischen Zivilisten kaum ein anderes Thema als die Lage in Gaza: Die arabischen Social-Media-Kanäle und Satelliten-Sender (dies sind die beiden Haupt-Nachrichtenquellen unserer Leserschaft, die ja zum großen Teil in den letzten fünf bis sieben Jahren aus Syrien gekommen ist) kannten kein anderes Thema. Der Strom der Bilder getöteter Kinder und zerstörter Gebäude in Gaza reißt nicht ab.
Diese Bilder stammen von Menschen in Gaza und von Journalist:innen Vorort, die das Leiden dort dokumentieren. Manche Bilder werden aber auch von radikalen Gruppen verbreitet, die sie manipulativ einsetzen, um die Stimmung anzuheizen. Im Bilderstrom ist es manchmal nicht leicht zu sehen, welches Bild von wem stammt. Die Absicht dieser radikalen Gruppen ist klar: Es sollen Emotionen geschürt, das Gefühl von Diskriminierung und Ungerechtigkeit gefördert werden. Das Ziel ist, Menschen für die islamistische Ideologie zu mobilisieren. Es entsteht der Eindruck, dass Gaza überall ist und das Leiden übermächtig.
24/7 Grauen zum Durchklicken
Bei Amal sehen sie, dass es auf dieser Welt auch noch andere Blickwinkel auf das Thema gibt und vor allem: Dass es auch noch andere wichtige Themen die Welt bewegen und für unseren Alltag hier in Deutschland wichtig sind. Asylkompromisse, Landtagswahlen, Halloween Partys und auch die Situation von Juden und Jüdinnen in Deutschland, zum Beispiel.
Meinung gibt es genug. Es fehlen Fakten.
In der Redaktion haben wir viel darüber diskutiert, wie wir über die Demonstrationen zum Thema Gaza hier in Deutschland berichten. Macht es Sinn zu kommentieren, dass ein Großteil der arabischen Bevölkerung in Deutschland mit der Hamas nichts zu tun haben will, aber sich unwohl fühlt, wenn sie sich ständig distanzieren und rechtfertigen muss? Wir kamen zu dem Schluss dass es bereits genug Meinungsäußerungen zu diesem Thema gibt und haben uns gefragt, was wir unseren Leser:innen anbieten können, was sie anderswo nicht finden.
Was brauchen unsere Leser:innen?
Wir wissen, dass sich viele schwer tun, genau zu verstehen, wo die rote Linie zwischen dem Sagbaren und dem Nicht-Akzeptablen in Deutschland verläuft. Was ist berechtigte Kritik an der israelischen Siedlungspolitik und wann schlägt diese Kritik in Antisemitismus um? Oder, ganz praktisch gefragt: Darf ich auf einer Demo die palästinensische Fahne schwenken? Welche Slogans sind OK? Wann schreitet die Polizei ein? Zu diesen Themen haben wir mehrere Interviews geführt und ganz regelmäßig in unseren täglichen Nachrichten darüber berichtet.
Raus aus der Bubble
Wir verstehen dies als wichtigen Beitrag dazu, Menschen Orientierung zu geben. Wir setzen der Auffassung: “In Deutschland kann man nicht sagen, was man denkt und man kann seine Solidarität mit Palästina nicht ausdrücken!” ein anderes Narrativ entgegen: “In Deutschland kann man seine Solidarität mit Palästina durchaus ausdrücken, solange man nicht das Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung preist und Israel das Existenzrecht abspricht.” Nach dem Motto: Bei Amal erfahrt ihr, was in Deutschland strafbar ist und wieso.
Wie berichten deutsche Medien?
In den Interviews, die wir auf der Straße und bei Demonstrationen machen, hören wir immer wieder die Aussage: “Deutsche Medien lügen und überhaupt sind sie krass einseitig!” Wenn man genauer nachfragt, räumen die meisten ein, dass sie schon ziemlich lange kein ARD oder ZDF geschaut haben und sich ihre Meinung über die Einseitigkeit der deutschen Medien aus Berichten in arabischen Sendern und Social-Media-Kanälen gebildet haben und außerdem wüssten sie das aus Erfahrung. “Das weiß man doch! Das war schon immer so!”
Bei Amal erfahren sie Tag für Tag zumindest ansatzweise, wie deutsche Medien berichten und welche Informationen außerhalb ihrer Bubble für wichtig befunden werden. Außer uns gab es nicht viele arabisch-sprachige Kanäle, die ihre Leser:innen mit Berichten über die große Israel-Solidaritätsdemonstration in Berlin und die vielen Veranstaltungen zum 9. November und die Sorgen und Ängste der Juden und Jüdinnen in Deutschland versorgten.
Im Gespräch bleiben
Wir bekommen – wie gesagt – derzeit viel Kritik von arabischen Leser:innen, denen unser Ansatz nicht gefällt. Allerdings stellen wir fest, dass die allermeisten uns als Leser:innen trotzdem treu bleiben und den nächsten Beitrag, den wir zum Thema posten, wieder kommentieren. Darauf sind wir stolz, denn wir denken, dass die Auseinandersetzung und Diskussion gerade jetzt wichtig ist, denn es zeichnet sich ab, dass uns ein längerer Konflikt bevorsteht.
So gibt es Vor diesem Hintergrund erscheint es uns wichtig zu zeigen, dass es möglich ist, in Deutschland seinen Ärger und seinen Zorn über die Ereignisse in Gaza auszudrücken und dies nicht nur bei Demonstrationen in die Herbstluft zu schreien, sondern auch in das Mikrophon eines deutschen Mediums zu äußern (solange man sich an die Regeln hält und nichts Strafbares sagt). So haben unsere Kollegen in Frankfurt über die Stimmung bei einer der Demonstrationen berichtet. Sie zeigen in ihrem Video, wie Protest und Kritik möglich sind und machen einen Gesprächskanal auf.
Es ist aber auch klar, dass unser Kurs heikel ist. Auch für uns. Einige Kolleg:innen machen sich Sorgen, wenn sie in bestimmten Gegenden von Berlin, Hamburg oder Frankfurt unterwegs sind. Sie befürchten, dass sie von Anhängern der Hamas oder ähnlichen Gruppen beschimpft oder attackiert werden könnten.
Zudem gibt es eine andere Bedrohung, die uns noch mehr Sorgen macht. Wie alle Projekte in unserem Bereich sind wir natürlich unter Beobachtung. Das Beispiel des Kulturzentrums Oyoun in Berlin Neukölln zeigt es. Es gehört nur wenig dazu, ein seit langem bestehendes Projekt, das viele Brücken in verschiedene Richtungen gebaut hat, zu ruinieren. Eine falsche Veranstaltung, ein Interview mit einer Person, die womöglich auf dem privaten Facebook einen falschen Post geteilt hat – und schon kann Förderung und Weiterexistenz in Frage gestellt werden.
Was bleibt, ist die Hoffnung, dass unsere Beobachtung stimmt: Dass es derzeit einen Trend zu Versachlichung der Diskussion um Gaza gibt und es möglich wird, genauer hinzuhören. Hinzuhören, was unsere arabischen Leser:innen sagen und gemeinsam zu überlegen, wie wir unser Land so gestalten, dass sich alle sicher und willkommen fühlen. Insbesondere auch Juden und Jüdinnen, die in letzter Zeit zu viele Sorgen und Angst ertragen mussten.