Januar 10, 2023

Leben wie im Adventskalender

Ich lebe in Frankfurt seit der Zeit der Ostereier und Häschen. Meine Tochter und ich kamen nach Frankfurt, als der Krieg in der Ukraine im Februar uns dazu zwang. Vor uns lag die schöne Osterzeit, Zeit für Familie und Erholung. Bei mir löste diese schöne Atmosphäre allerdings Verzweiflung und Trauer aus. Seitdem sind zehn Monate vergangen und auch Weihnachten ist vorbei. Ich vergleiche mein Leben immer stärker mit einem Adventskalender. Trotz all der schlechten Nachrichten aus der Ukraine, trotz der unendlich vielen bürokratischen Hürden, die mich manchmal zu umhüllen und mitzureißen drohen wie eine Schneelawine, weiß ich doch, dass mich jeden Tag wieder ein neues Türchen erwartet, das ich aufmachen darf und hinter dem sich etwas Schönes verbirgt. Ich bin sehr glücklich, diese wunderbaren Menschen zu treffen: Die Frankfurter:innen. Offene, gastfreundliche und sehr warmherzige Menschen.  Sie nahmen uns auf und wir lebten in ihren Wohnungen. Manchmal mit ihnen oder neben ihnen. Durch sie absorbierten wir das Wissen über diese Stadt: Über Menschen, Sitten und Gebräuche. Wir testeten verschiedene Arten zu leben und verschiedene Stadtteile: Gallus, Dornbusch, Sachsenhausen, Bornheim, Weißer Stein, Oberursel, Ginnheim.

Manche unserer Gastgeber waren selbst Migranten, andere deutsch, solange das Ahnengedächtnis reicht. In dieser Zeit lernten wir auch viele Ukrainer:innen kennen. Viele waren Flüchtlinge wie wir. Es sind aber auch Menschen darunter, die schon sehr lange in Frankfurt leben. Wir trafen uns bei Anti-Kriegs-Demos, in sozialen Einrichtungen und bei Veranstaltungen von NGOs, die sich für die Integration von Geflüchteten in die deutsche Gesellschaft einsetzen. Wir lernten uns auf den Fluren der Anmeldestellen kennen und trafen uns in den Schlangen des Job-Centers wieder. Gemeinsam versuchen wir unverständliche Formulare auszufüllen und uns bei der Überwindung bürokratischer Hürden zu helfen. Uns verbindet die Sorge um die Schulbildung unserer Kinder, die Suche nach guten Tanzkursen für unsere Töchter und verständnisvollen Ärzten für uns selbst.

Immer mehr komme ich zu der Erkenntnis, dass es in Frankfurt parallele Gesellschaften gibt: Die Hochhäuser und die Welt der Banken hat so ganz und gar nichts mit dem Alltag derer zu tun, die damit kämpfen, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Sie konkurrieren mit Menschen, die feste, gut bezahlte Arbeitsverhältnisse haben. Deren Haushaltseinkommen bei 4000 Euro plus liegt. Es tut mir weh, wenn ich mit Frauen spreche, die aus allen möglichen Ländern wie Italien, Frankreich oder Tschechien nach Deutschland kommen und so prekär leben, dass sie sich gar nichts leisten können und ihr Geld noch nicht einmal reicht, um genug zu essen zu kaufen.

Also, kurz gesagt: Das Leben in Frankfurt ist so wie überall auf der Welt. Doch scheint es mir, dass es hier viele Möglichkeiten gibt, etwas aus der Situation zu machen: Eine Ausbildung anstreben, ein Studium beginnen, arbeiten, reisen, anderen Menschen helfen. Die Menschen in Frankfurt sind im Allgemeinen offen und  sie belasten ihren Kopf nicht mit Angelegenheiten, die sie nicht weiterbringen. Sie geben sich nicht so sehr mit Äußerlichkeiten ab und versuchen nicht zu sein, was sie nicht sind. Viele Ukrainer:innen wissen nicht, wie lange sie in Deutschland bleiben werden und wie es mit ihnen weitergeht, wenn der Krieg zu Ende ist. Da gilt es, keine Zeit zu verlieren. Das Leben hier bietet so viele Möglichkeiten. Man kann eine Sprache lernen, ein Geschäft aufbauen oder auf Reisen gehen. Man bekommt Stipendien, Starthilfe und jede Menge Unterstützung. Man braucht nur loszulegen. Die einzige Bedingung ist: Man muss wissen, was es gibt, was passiert und wie man sich daran beteiligen kann.

Genau das ist mein Ziel hier bei Amal in Frankfurt! Ich möchte die Informationsquelle sein, die Ukrainer:innen hier im Rhein-Main-Gebiet befähigt, etwas aus der Situation zu machen. Massenmedien haben zudem schon immer die Rolle, allen eine Stimme zu geben und ganz besonders denen, die sonst oft von der Gesellschaft überhört werden. Insofern möchte ich gerne ein Team mit Ihnen, liebe Leser:innen bilden: Gemeinsam sorgen wir dafür, dass alle Themen, die für unsere ukrainische Community hier wichtig sind, Gehör finden.